Alle Tauben fliegen hoch

"Kleine Tricks": Andrzej Jakimowskis wunderbarer Film über das Leben in einer polnischen Kleinstadt
Christina Bylow

Der Käfig steht offen, aber die Tauben hocken regungslos - ganz so als hätten sie ihre Freiheit nicht begriffen. Der Junge droht den Tauben mit dem Stock, wie er es bei seinem Großvater gesehen hat, aber bei ihm wirkt die Gebärde nicht. Wie schafft man es, andere Wesen dazu zu bringen, das zu tun, was man sich von ihnen wünscht?

Stefek (Damian Ul) ist sieben Jahre alt und übt sich in den ersten Schritten auf dem Weg zur Manipulation -- oder Magie.

Kann es helfen, Zinnsoldaten zwischen die Bahngleise zu stellen oder Münzen zu werfen, damit sein Vater zurückkommt? Der hat die Familie nämlich wegen einer anderen Frau verlassen. Ist er jener Reisende, der jeden Tag mit einer Aktentasche auf dem Bahnhof steht? Stefeks Schwester Elka (Ewelina Walendziak) ist mehr als ein Jahrzehnt älter als der Junge; sie herrscht ihren Bruder an: "Es gibt keinen Papa! Ich bin deine Schwester und dein Vater".

Dann zeigt sie ihm aber doch ein paar Tricks, wie man das Schicksal anschubsen kann. Elka liebt ihren kleinen Bruder so ruppig, wie es große Geschwister tun, die sich für ein Familienfragment verantwortlich fühlen.

"Kleine Tricks" ist kein Kinderfilm - so wenig wie Filme von Louis Malle Kinderfilme sind, nur weil in manchen von ihnen Kinder die wichtigsten Rollen spielen. Kinderfilm-Kinder sind meist unangenehme Erscheinungen, weil sie die längst abgelegten, marktgerecht aufgeblähten Fantasien erwachsener Regisseure verkörpern müssen. Abenteuer, Zauberei, Größenwahn. Immer im vampirischen Zugriff auf die Gefühle der kindlichen Zuschauer.

Kinder wie Stefek kommen woanders her: aus einer Erinnerung, die lebendig geblieben ist, mit allem Schmerz, mit der Schläue, dem Vertrauen auf sich selbst. Sie sind skeptisch, rätselhaft, beharrlich, unbestechliche Beobachter einer Welt, die sie genau wahrnehmen und nicht bewerten.

Stefeks Welt ist eine namenlose polnische Kleinstadt. Es ist Hochsommer, das staubige Licht legt sich wie ein Filter vor die Augen. Der Romancier Andrzej Stasiuk hat den Kosmos des vermeintlichen Stillstands der polnischen Provinz in seinem Roman "Die Welt hinter Dukla" eindringlich beschrieben, Andrzej Jakimowskis Film ist in seinen Bildern ebenso sinnlich und genau, er verklärt nichts mit süßlicher Poesie. Es ist der zweite Spielfilm des 1963 geborenen Regisseurs, der in "Kleine Tricks" das ungleiche Geschwisterpaar von hochbegabten Laien spielen lässt.

Seine Stadt ist so ungeliftet wie Zgorzelec, die polnische Seite von Görlitz. Kein Ort für Hollywood. Die Fassaden sind schlammgrau, dazwischen grelle Töne in den neuen Neon-Farben, die Straßen sind voller Schlaglöcher, am Stadtrand lockt Elkas erhoffte Zukunft - ein italienischer Investor hat ein spiegelndes Bürogebäude in die Brache gestellt.

Elka verpasst ihre Chance, weil sie die Zeit vergisst, aus dem Gleichgewicht gebracht von der Obsession des Bruders. All die einander sanft anvertrauten Figuren dieses Films geraten durch den Fremden ins Straucheln. Elkas Freund Jerzy (Rafal Guzniczak) wird mit seinem Chevrolet ohne Räder nicht fertig, die dralle Blonde aus der Nachbarschaft verliert ihre Einkäufe, der Mann seine Aktentasche. Schließlich betritt der Fremde den Laden der Mutter. Die Rückkehr des verlorenen Vaters? Haben die Tricks doch gewirkt? Andrzej Jakimowski lässt die Antwort in der Schwebe. Kinder erfinden das Ende gern selbst.

Kleine Tricks (Sztuczki) Polen 2007. Drehbuch und Regie: Andrzej Jakimowski, Kamera: Adam Bajerski, Schnitt: Cezary Grzesiuk, Musik: Tomasz Gassowski, Darsteller: Damian Ul, Ewelina Walendziak, Rafal Guzniczak u. a.; 96 Minuten, Farbe.

online :
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0723/feuilleton/0032/index.html